Wolfsbrei von Alexander Stahlhacke

Ein modernes Märchen, 2017

Wolfsbrei(Erzählung)

Es war ein schöner Frühlingsmorgen und die ersten zarten Sonnenstrahlen versuchten das Schlafzimmer mit Licht zu durchfluten. Alex war gerade aus dem Gästezimmer geschlichen, dass sich der Fünfjährige mit seinen Eltern wie immer teilte, wenn sie seine Großeltern besuchten. Barfüßig stieg er die Holztreppe hinunter. Unter jedem Schritt seines Federgewichts schien das Holz zu knarzen. Je mehr er sich der Küche näherte, desto intensiver roch es nach aufgeschnittenen Gurken und frischem Dill und anderen Kräutern. Unten angekommen, hörte Alex flüsternde Stimmen aus der Küche. Oma und Opa waren also schon aufgestanden. Freudig öffnete er die Küchentür und ging hinein. „Guten Morgen Oma! Guten Morgen Opa!“, begrüßte er lächelnd seine Großeltern. „Guten Morgen Alex“, grüßten beide zurück. „Wer ist denn da schon so früh wach?“, fragte Oma erstaunt. Sie saß am Küchentisch und trank eine Tasse Pfefferminztee, während Opa am Fenster stand und eine Tasse mit einem Löffel drin hielt. Die Tasse war weiß mit einem zart violetten Blumenmotiv darauf. Sie wirkte alt, denn an manchen Stellen fehlten Blumen aus dem Motiv. Abwechselnd nahm Opa einen Schluck aus ihr und rührte mit dem Löffel in der Tasse herum. Dabei hob er manchmal auch das mit schlunzigem Inhalt gefüllte Rührutensil bis zum Tassenrand. Neugierig blickte Alex auf die Löffelfüllung. Sie hatte eine leicht schleimige Konsistenz und wirkte eher unappetitlich. Irritiert, dass sein Opa so etwas Ekeliges frühstückte, fragte Alex den Schleimvertilger: „Was isst Du da, Opa?“ Opa beugte sich zu seinem Enkel hinunter und flüsterte ihm verschwörerisch ins Ohr: „Ich esse Wolfsbrei, Alex. Ich bin mit einem Wolf befreundet. Er wohnt bei uns im Garten. Wenn er zu hungrig ist, könnte er uns fressen. Zum Glück aber habe ich einen Vertrag mit ihm geschlossen. Er krümmt uns kein Haar, wenn ich jeden Morgen Wolfsbrei esse. Möchtest Du auch mal probieren?“ , fragte er seinen Enkel neckisch, als er bemerkte, dass der Junge ihn entgeistert anschaute. Als Opa sein Tassenfrühstück fertig geschlonzt hatte, bedeckte er seinen größtenteils kahlen Kopf mit seiner grauen Schlägermütze und ging mit seinem Enkel in den Garten.
Dort schichteten sie Äste in einer Vertiefung mitten auf dem Beet auf. Voller Neugier schaute Alex sich immer wieder im Garten um, um einen Blick auf den Wolf zu werfen. Heute Abend sollte das Osterfeuer stattfinden, zu dem Opas und Omas Kinder mit ihren Familien kommen würden. Kaum, dass sie mit dem letzten Ast den „Scheiterhaufen“ fertig geschichtet hatten,schlug die Kirchturmuhr zwölf - also noch ungefähr eine Stunde Zeit bis zum Mittagessen. Oma würde die beiden dann schon zum Essen rufen. Opa wollte bis zum Mittagessen noch etwas basteln. Daher öffnete er die Garage, die auch gleichzeitig seine Werkstatt war, und fuhr seinen grünen Corsa auf den Hof. Dann ging er wieder in die Garage und setzte sich der Werkzeugwand zugewandt auf einen hölzernen Hocker, um an seinem angefangenen Projekt weiterzuarbeiten.
Bis zum Mittagessen wollte Alex versuchen den Wolf zu finden, was nicht einfach war. Schließlich hatten Oma und Opa einen großen Garten mit vielen verwinkelten Ecken. Nachdem Alex Omas Obstwiese im Garten erfolglos durchsucht hatte, ging er ins lichtarme Tannenwäldchen. Auch hier war der Wolf nirgends aufzuspüren. Verzweifelt blickte sich der kleine Abenteurer um, als plötzlich etwas auf seinen Kopf prallte und dann auf den Boden fiel. „Opa, Opa, der Wolf, komm schnell“ , schrie der Held panisch durch die Gegend. Der Gerufene kam auf seinen langen dünnen Beinen angestakst und blieb abrupt vor dem Nadelwäldchen stehen. Alex hatte inzwischen herausgefunden, was auf seinen Blondschopf gefallen war. Lediglich ein Tannenzapfen; also kein Grund zur Sorge. Der Junge wollte gerade weiter nach dem Wolf suchen, da hörte er seine Oma, wie sie ihn und Opa zum Essen rief. Beide betraten das Haus und gingen in die Küche. Am gedeckten Tisch saßen schon Alex Eltern, die den „unerschrockenen“ Jäger und den erfahrenen Bastler freudig begrüßten. Die beiden Schelme nahmen ebenfalls Platz und Oma verteilte das Essen. Es gab Hähnchenschenkel aus dem Backofen mit Ofenkartoffeln als Beilage.“Lecker!“ schrie Alex, als er die Köstlichkeiten auf seinem Teller sah.
Nachdem alle die Ofenkartoffeln verputzt und die Schenkelknochen abgenagt hatten, fingen die Ersten an sich zu erheben, so auch Alex. Er schlenderte ins Wohnzimmer und stoppte vor dem Telefon im Essbereich.
Dann hob Alex den Hörer ab und gab auf der Wählscheibe die Telefonnummer von Verwandten ein, die genau wie Oma und Opa in der norddeutschen Hansestadt wohnten.Nach kurzem Tuten nahm Alex Tante ab. Nach dem ganzen Fragen wie es denn allen gehe, brachte der Fünfjährige seinen ganzen Charme ins Gespräch und fragte, ob Tante, Onkel und Cousine schon gleich kommen wollten, anstatt erst so spät einzutreffen.
Alex hatte Glück, denn nach kurzem Hin und Her stand fest, dass die Verwandten schon in ungefähr einer halben Stunde da sein würden.
Als sie endlich eintrafen, einigten sich der Fünfjährige und seine Lieblingscousine Angela darauf im Garten Kochen zu spielen. Dazu holten beide den alten, brauen Kochtopf aus dem Gartenhaus, füllten ihn mit Wasser aus der Pumpe im Garten und rissen hier und dort Blätter und Blüten von Omas Blumen ab. Diese kamen dann in den Topf und schon war der Wolfsbrei fertig.
Als später noch mehr Verwandte kamen, zündete Opa den Holzhaufen an. Auf dieses Osterfeuer hatten schon alle gewartet, denn es gab Stockbrot, Würstchen und Folienkartoffeln.
Schon jetzt freute sich Alex auf die nächsten Osterferien bei Oma und Opa.
Bei einem seiner nächsten Besuche bei Oma und Opa fand Alex heraus, dass Opas Wolfsbrei aus Haferflocken, warmer Milch und Leinsamen bestand.

Quellen

Stahlhacke, Alexander: Wolfsbrei. SdS Hamburg. 2017