Das kleine Volk

kommt in etlichen Märchen bzw. Sagen der Gebrüder Grimm1) vor, die nicht irisch sind ( Die Gebrüder Grimm haben auch irische Sagen und Märchen2) herausgegeben). Für das kleine Volk (Wee Folk) in den Märchen der Gebrüder Grimm habe ich anschließend zwei Beispiele aufgezeichnet. Wie in den irischen Märchen das "wee folk" lebt das kleine Volk in einer Anderswelt (Tír na nÒg), einer anderen Dimension, oder vielleicht im Wald.

Menschen, die vertrauterweise im Wald lebten, scheint es noch im 17. Jahrhundert gegeben haben, wie die Statue des Mannes aus dem Wald in Hellbrunn in Salzburg3) beweist.

Auch das Grimm´sche Märchen "Eisenhans" deutet auf eine solche Lebensweise hin und der Eisenhans der Gebrüder Grimm weist wohl auch ein Verhalten wie die Sidhe oder später das Wee Folk auf.

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1) Brüder Grimm: Kinder und Hausmärchen Herder-Verlag Freiburg im Breisgau 1950

2) Brüder Grimm: Irische Elfenmärchen  Herder-Verlag Freiburg im Breisgau 1996

3)http://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Hellbrunn   (19.1.13)

 

 

 

Das Märchenmotiv von einer Parallelwelt im Wald mit Kontakt mit den Menschen gibt es in allen europäischen Märchen.
Grades Schloss

Die Geschenke des kleinen Volkes
Ein Schneider und ein Goldschmied wanderten zusammen und vernahmen eines Abends, als die Sonne hinter die Berge gesunken war, den Klang einer fernen Musik, die immer deutlicher ward; sie tönte ungewöhnlich, aber so anmutig, daß sie aller Müdigkeit vergaßen und rasch weiterschritten. Der Mond war schon aufgestiegen, als sie zu einem Hügel gelangten, auf dem sie eine Menge kleiner Männer und Frauen erblickten, die sich bei den Händen gefaßt hatten und mit größter Lust und Freudigkeit im Tanze herumwirbelten: sie sangen dazu auf das lieblichste; und das war die Musik, die die Wanderer gehört hatten. In der Mitte saß ein Alter, der etwas
größer war als die übrigen, der einen buntfarbigen Rock trug, und dem ein eisgrauer Bart über die Brust herabhing. Die beiden
blieben voll Verwunderung stehen und sahen dem Tanz zu. Der
Alte winkte, sie sollten eintreten, und das kleine Volk öffnete
bereitwillig seinen Kreis. Der Goldschmied, der einen Höcker
hatte und wie alle Buckeligen keck genug war, trat herzu: der
Schneider empfand zuerst einige Scheu und hielt sich zurück,
doch als er sah, wie es so lustig herging, faßte er sich ein Herz
und kam nach. Alsbald schloß sich der Kreis wieder und die
Kleinen sangen und tanzten in den wildesten Sprüngen weiter,
der Alte aber nahm ein breites Messer, das an seinem Gürtel
hing, wetzte es, und als es hinlänglich geschärft war, blickte er
sich nach den Fremdlingen um. Es ward ihnen angst, aber sie
hatten nicht lange Zeit, sich zu besinnen, der Alte packte den
Goldschmied und schor in der größten Geschwindigkeit ihm
Haupthaar und Bart glatt hinweg; ein gleiches geschah hierauf
dem Schneider. Doch ihre Angst verschwand, als der Alte nach
vollbrachter Arbeit beiden freundlich auf die Schulter klopfte,
als wollte er sagen, sie hätten es gut gemacht, daß sie ohne
Sträuben alles willig hätten geschehen lassen. Er zeigte mit dem
Finger auf einen Haufen Kohlen, der zur Seite lag, und deutete
ihnen durch Gebärden an, daß sie ihre Taschen damit füllen
sollten. Beide gehorchten, obgleich sie nicht wußten, wozu
ihnen die Kohlen dienen sollten, und gingen dann weiter, um ein
Nachtlager zu suchen. Als sie ins Tal gekommen waren, schlug
die Glocke des benachbarten Klosters zwölf Uhr: augenblicklich
verstummte der Gesang, alles war verschwunden und der Hügel
lag in einsamem Mondschein.
Die beiden Wanderer fanden eine Herberge und deckten sich auf
dem Strohlager mit ihren Röcken zu, vergaßen aber wegen ihrer
Müdigkeit, die Kohlen zuvor herauszunehmen. Ein schwerer
Druck auf ihren Gliedern weckte sie früher als gewöhnlich. Sie
griffen in die Taschen und wollten ihren Augen nicht trauen, als
sie sahen, daß sie nicht mit Kohlen, sondern mit reinem Gold
angefüllt waren; auch Haupthaar und Bart waren glücklich
wieder in aller Fülle vorhanden. Sie waren nun reiche Leute
geworden' doch besaß der Goldschmied' der seiner habgierigen
Natur gemäß die Taschen besser gefüllt hatte, noch einmal
soviel als der Schneider. Ein Habgieriger, wenn er viel hat,
verlangt noch mehr, der Goldschmied machte dem Schneider
den Vorschlag, noch einen Tag zu verweilen, am Abend wieder
hinauszugehen, um sich bei dem Alten auf dem Berge noch
größere Schätze zu holen. Der Schneider wollte nicht und sagte
'ich habe genug und bin zufrieden: jetzt werde ich Meister,
heirate meinen angenehmen Gegenstand (wie er seine Liebste
nannte) und bin ein glücklicher Mann.' Doch wollte er, ihm zu
Gefallen, den Tag noch bleiben. Abends hing der Goldschmied
noch ein paar Taschen über die Schulter, um recht einsacken zu
können, und machte sich auf den Weg zu dem Hügel. Er fand,
wie in der vorigen Nacht, das kleine Volk bei Gesang und Tanz,
der Alte schor ihn abermals glatt und deutete ihm an, Kohlen
mitzunehmen. Er zögerte nicht, einzustecken, was nur in seine
Taschen gehen wollte, kehrte ganz glückselig heim und deckte
sich mit dem Rock zu. 'Wenn das Gold auch drückt,' sprach er,
'ich will das schon ertragen,' und schlief endlich mit dem süßen
Vorgefühl ein, morgen als steinreicher Mann zu erwachen. Als
er die Augen öffnete, erhob er sich schnell, um die Taschen zu
untersuchen, aber wie erstaunte er, als er nichts herauszog als
schwarze Kohlen, er mochte so oft hineingreifen, als er wollte.
'Noch bleibt m ir das Gold, das ich die Nacht vorher gewonnen
habe,' dachte er und holte es herbei, aber wie erschrak er, als er
sah, daß es ebenfalls wieder zu Kohle geworden war. Er schlug
sich mit der schwarzbestäubten Hand an die Stirne, da fühlte er,
daß der ganze Kopf kahl und glatt war wie der Bart. Aber sein
Mißgeschick war noch nicht zu Ende, er merkte erst jetzt, daß
ihm zu dem Höcker auf dem Rücken noch ein zweiter ebenso
großer vorn auf der Brust gewachsen war. Da erkannte er die
Strafe seiner Habgier und begann laut zu weinen. Der gute
Schneider, der davon aufgeweckt ward, tröstete den
Unglücklichen, so gut es gehen wollte, und sprach 'du bist mein
Geselle auf der Wanderschaft gewesen, du sollst bei mir bleiben
und mit von meinem Schatz zehren.' Er hielt Wort, aber der
arme Goldschmied mußte sein Lebtag die beiden Höcker tragen
und seinen kahlen Kopf mit einer Mütze bedecken.

 

Die Sage der Brüder Grimm

Das kleine Volk auf der Eilenburg wollte einmal Hochzeit halten und zog daher in der Nacht durch das Schlüsselloch und die Fensterritzen in den Saal und es sprang hinab auf den glatten Fußboden, wie Erbsen auf die Tenne geschüttet werden.

Davon erwachte der alte Graf, der im hohen Himmelbette in dem Saale schlief und verwunderte sich über die vielen kleinen Gesellen. Da trat einer von ihnen, geschmückt wie ein Herold, zu ihm heran und lud ihn mit geziemenden Worten gar höflich ein, an ihrem Feste teilzunehemen. „Doch um eins bitten wir“, setzte er hinzu, „Ihr allein sollt zugegen sein; keiner von Eurem Hofgesinde darf sich unterstehen, das Fest mitanzuschauen, auch nicht mit einem einzigen Blicke.“

Der alte Graf antwortete freundlich: „Weil Ihr mich im Schlaf gestört habt, so will ich auch mit Euch sein.“ Nun ward ihm ein kleines Weiblein zugeführt, kleine Lampenträger stellten sich auf und eine Heimchenmusik hob an. Der Graf hatte Mühe, das Weibchen beim Tanze nicht zu verlieren, da es ihm so leicht daher sprang und endlich so im Wirbel drehte, dass er kaum zu Atem kam.

Mitten in dem lustigen Tanz aber stand auf einmal alles still. Die Musik hörte auf und der ganze Haufen eilte nach den Türspalten, Mauselöchern oder wo sonst ein Schlupfwinkel war. Das Brautpaar aber, die Herolde und Tänzer schauten aufwärts nach einer Öffnung, die sich oben in der Decke des Saales befand und entdeckten dort das Gesicht der alten Gräfin, die vorwitzig nach der lustigen Gesellschaft herabschaute.

Darauf neigten sie sich vor dem Grafen und derselbe, der ihn eingeladen, trat wieder hervor und dankte ihm für die erzeigte Gastfreundschaft. „Weil aber“, sagte er dann, „unsere Freude und unsere Hochzeit also ist gestört worden, dass noch ein anderes menschliches Auge darauf geblicket hatte, so soll fortan Euer Geschlecht nie mehr als sieben Eilenburger zählen.“

Darauf drängten sie nacheinander schnell hinaus; bald war es still und der alte Graf war wieder allein im finstern Saale.

Die Verwünschung ist bis auf die gegenwärtige Zeit eingetroffen und immer ist einer von den sechs lebenden Rittern von Eilenburg gestorben, ehe der siebente geboren ward.

1) Siehe auch http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/9/95/Eilenburg2.jpg/220px-Eilenburg2.jpg 13.1,13

Der im Wald lebende Mann – ein Archetyp der europäischen Erzählkultur
Eisenhans

Der wilde Mann im Wald ist ein sehr üblicher Mythos.

 

Der Eisenhans
Es war einmal ein König, der hatte einen großen Wald bei
seinem Schloss; darin lief Wild aller Art herum. Zu einer Zeit
schickte er einen Jäger hinaus, der sollte ein Reh schießen, aber
er kam nicht wieder. "Vielleicht ist ihm ein Unglück
zugestoßen", sagte der König und schickte den folgenden Tag
zwei andere Jäger hinaus, die sollten ihn aufsuchen; aber die
blieben auch weg. Da ließ er am dritten Tag alle seine Jäger
kommen und sprach: "Streift durch den ganzen Wald und lasst
nicht ab, bis ihr sie alle drei gefunden habt !" Aber auch von
diesen kam keiner wieder heim, und von der Meute Hunde, die
sie mitgenommen hatten, ließ sich keiner wieder sehen. Von der
Zeit an wollte sich niemand mehr in den Wald wagen, und er lag
da in tiefer Stille und Einsamkeit, und man sah nur zuweilen
einen Adler oder Habicht darüber hinwegfliegen. Das dauerte
viele Jahre; da meldete sich ein fremder Jäger bei dem König,
suchte eine Versorgung und erbot sich, in den gefährlichen
Wald zu gehen. Der König aber wollte seine Einwilligung nicht
geben und sprach: "Es ist nicht geheuer darin, ich fürchte, es
geht dir nicht besser als den andern, und du kommst nicht
wieder heraus." Der Jäger antwortete: "Herr, ich will's auf meine
Gefahr wagen; von Furcht weiß ich nichts." Der Jäger begab
sich also mit seinem Hund in den Wald. Es dauerte nicht lange,
so geriet der Hund einem Wild auf die Fährte und wollte hinter
ihm her; kaum aber war er ein paar Schritte gelaufen, so stand er
vor einem tiefen Pfuhl, konnte nicht weiter, und ein nackter
Arm streckte sich aus dem Wasser, packte ihn und zog ihn
hinab. Als der Jäger das sah, ging er zurück und holte drei
Männer, die mussten mit Eimern kommen und das Wasser
ausschöpfen. Als sie auf den Grund sehen konnten so lag da ein
wilder Mann, der braun am Leib war wie rostiges Eisen und
dem die Haare über das Gesicht bis zu den Knien herabhingen.
Sie banden ihn mit Stricken und führten ihn fort in das Schloss.
Da war große Verwunderung über den wilden Mann; der König
aber ließ ihn in einen eisernen Käfig auf seinen Hof setzen und
verbot bei Lebensstrafe, die Türe des Käfigs zu öffnen, und die
Königin musste den Schlüssel selbst in Verwahrung nehmen.
Von nun an konnte ein jeder wieder mit Sicherheit in den Wald
gehen.
Der König hatte einen Sohn von acht Jahren, der spielte einmal
auf dem Hof, und bei dem Spiel fiel ihm sein goldener Ball in
den Käfig. Der Knabe lief hin und sprach: "Gib mir meinen Ball
heraus !" "Nicht eher", antwortete der Mann, "als bis du mir die
Türe aufgemacht hast." "Nein", sagte der Knabe, "das tue ich
nicht, das hat der König verboten", und lief fort. Am andern Tag
kam er wieder und forderte seinen Ball. Der wilde Mann sagte:
"Öffne meine Türe !" Aber der Knabe wollte nicht. Am dritten
Tag war der König auf Jagd geritten, da kam der Knabe
nochmals und sagte: "Wenn ich auch wollte, ich kann die Türe
nicht öffnen, ich habe den Schlüssel nicht." Da sprach der wilde
Mann: "Er liegt unter dem Kopfkissen deiner Mutter, da kannst
du ihn holen." Der Knabe, der seinen Ball wieder haben wollte,
schlug alles Bedenken in den Wind und brachte den Schlüssel
herbei. Die Türe ging schwer auf, und der Knabe klemmte sich
den Finger. Als sie offen war, trat der wilde Mann heraus, gab
ihm den goldenen Ball und eilte hinweg. Dem Knaben war angst
geworden, er schrie und rief ihm nach: "Ach, wilder Mann, gehe
nicht fort, sonst bekomme ich Schläge." Der wilde Mann kehrte
um, hob ihn auf, setzte ihn auf seinen Nacken und ging mit
schnellen Schritten in den Wald hinein. Als der König heimkam,
bemerkte er den leeren Käfig und fragte die Königin, wie das
zugegangen wäre. Sie wusste nichts davon, suchte den Schlüssel,
aber er war weg. Sie rief den Knaben, aber niemand antwortete.
Der König schickte Leute aus, die ihn auf dem Felde suchen
sollten, aber sie fanden ihn nicht. Da konnte er leicht erraten,
was geschehen war, und es herrschte große Trauer an dem
königlichen Hof.
Als der wilde Mann wieder in dem finstern Wald angelangt war,
so setzte er den Knaben von den Schultern herab und sprach zu
ihm: "Vater und Mutter siehst du nicht wieder, aber ich will dich
bei mir behalten, denn du hast mich befreit, und ich habe
Mitleid mit dir. Wenn du alles tust, was ich dir sage, so sollst
du's gut haben. Schätze und Gold habe ich genug und mehr als
jemand in der Welt." Er machte dem Knaben ein Lager von
Moos, auf dem er einschlief; und am andern Morgen führte ihn
der Mann zu einem Brunnen und sprach: "Siehst du, der
Goldbrunnen ist hell und klar wie Kristall, du sollst dabeisitzen
und achthaben, daß nichts hineinfällt, sonst ist er verunehrt.
Jeden Abend komme ich und sehe, ob du mein Gebot befolgt
hast." Der Knabe setzte sich an den Rand des Brunnens, sah,
wie manchmal ein goldener Fisch, manchmal eine goldene
Schlange sich darin zeigte, und hatte acht, dass nichts hineinfiel.
Als er so saß, schmerzte ihn einmal der Finger so heftig, dass er
ihn unwillkürlich in das Wasser steckte. Er zog ihn schnell
wieder heraus, sah aber, dass er ganz vergoldet war, und wie
große Mühe er sich gab, das Gold wieder abzuwischen, es war
alles vergeblich. Abends kam der Eisenhans zurück, sah den
Knaben an und sprach: "Was ist mit dem Brunnen geschehen ?"
"Nichts, nichts", antwortete er und hielt den Finger auf den
Rücken, daß er ihn nicht sehen sollte. Aber der Mann sagte: "Du
hast den Finger in das Wasser getaucht. Diesmal mag's
hingehen, aber hüte dich, daß du nicht wieder etwas hineinfallen
lässt !" Am frühesten Morgen saß er schon bei dem Brunnen und
bewachte ihn. Der Finger tat ihm wieder weh, und er fuhr damit
über seinen Kopf, da fiel unglücklicherweise ein Haar herab in
den Brunnen. Er nahm es schnell heraus, aber es war schon ganz
vergoldet. Der Eisenhans kam und wusste schon, was geschehen
war. "Du hast ein Haar in den Brunnen fallen lassen", sagte er,
"ich will dir's noch einmal nachsehen; aber wenn's zum
drittenmal geschieht, so ist der Brunnen entehrt, und du kannst
nicht länger bei mir bleiben." Am dritten Tag saß der Knabe am
Brunnen und bewegte den Finger nicht, wenn er ihm noch so
weh tat. Aber die Zeit ward ihm lang und er betrachtete sein
Angesicht, das auf dem Wasserspiegel stand. Und als er sich
dabei immer mehr beugte und sich recht in die Augen sehen
wollte, so fielen ihm seine langen Haare von den Schultern
herab in das Wasser. Er richtete sich schnell in die Höhe, aber
das ganze Haupthaar war scholl vergoldet und glänzte wie eine
Sonne. Ihr könnt euch denken, wie der arme Knabe erschrak. Er
nahm sein Taschentuch und band es um den Kopf, damit es der
Mann nicht sehen sollte. Als er kam, wusste er schon alles und
sprach: "Binde das Tuch auf !" Da quollen die goldenen Haare
hervor, und der Knabe mochte sich entschuldigen wie er wollte,
es half ihm nichts. "Du hast die Probe nicht bestanden und
kannst nicht länger hier bleiben. Geh hinaus in die Welt, da
wirst du erfahren, wie die Armut tut. Aber weil du kein böses
Herz hast und ich's mit dir gut meine, so will ich dir eins
erlauben. Wenn du in Not gerätst, so geh zu dem Wald und rufe:
,Eisenhans !', dann will ich kommen und dir helfen. Meine
Macht ist groß, größer als du denkst, und Gold und Silber habe
ich im Überfluss."
Da verließ der Königssohn den Wald und ging über gebahnte
und ungebahnte Wege immerzu, bis er zuletzt in eine große
Stadt kam. Er suchte da Arbeit, aber er konnte keine finden und
hatte auch nichts erlernt, womit er sich hätte forthelfen können.
Endlich ging er in das Schloss und fragte, ob sie ihn behalten
wollten. Die Hofleute wussten nicht, wozu sie ihn brauchen
sollten, aber sie hatten Wohlgefallen an ihm und hießen ihn
bleiben. Zuletzt nahm ihn der Koch in Dienst und sagte, er
könnte Holz und Wasser tragen und die Asche
zusammenkehren. Einmal, als gerade kein anderer zur Hand
war, hieß ihn der Koch die Speisen zur königlichen Tafel tragen,
da er aber seine goldenen Haare nicht wollte sehen lassen, so
behielt er sein Hütchen auf. Dem König war so etwas noch nicht
vorgekommen, und er sprach: "Wenn du zur königlichen Tafel
kommst, musst du deinen Hut abziehen !" "Ach Herr",
antwortete er, "ich kann nicht, ich habe einen bösen Grind auf
dem Kopf." Da ließ der König den Koch herbeirufen, schalt ihn
und fragte, wie er einen solchen Jungen hätte in seinen Dienst
nehmen können; er sollte ihn gleich fortjagen Der Koch aber
hatte Mitleiden mit ihm und vertauschte ihn mit dem
Gärtnerjungen.
Nun mußte der Junge im Garten pflanzen und begießen, hacken
und graben und Wind und böses Wetter über sich ergehen
lassen. Einmal im Sommer, als er allein im Garten arbeitete, war
der Tag so heiß, dass er sein Hütchen abnahm und die Luft ihn
kühlen sollte. Wie die Sonne auf das Haar schien, glitzte und
blitzte es, dass die Strahlen in das Schlafzimmer der
Königstochter fielen und sie aufsprang, um zu sehen, was da
wäre. Da erblickte sie den Jungen und rief ihn an: " Junge, bring
mir einen Blumenstrauß !" Er setzte in aller Eile sein Hütchen
auf, brach wilde Feldblumen ab und band sie zusammen. Als er
damit die Treppe hinaufstieg, begegnete ihm der Gärtner und
sprach: "Wie kannst du der Königstochter einen Strauß von
schlechten Blumen bringen ? Geschwind hole andere und suche
die schönsten und seltensten aus !" "Ach nein", antwortete der
Junge, "die wilden riechen kräftiger und werden ihr besser
gefallen." Als er in ihr Zimmer kam, sprach die Königstochter:
"Nimm dein Hütchen ab, es ziemt sich nicht, daß du ihn vor mir
aufbehältst." Er antwortete wieder: "Ich darf nicht, ich habe
einen grindigen Kopf." Sie griff aber nach dem Hütchen und
zog es ab, da rollten seine goldenen Haare auf die Schultern
herab, dass es prächtig anzusehen war. Er wollte fortspringen,
aber sie hielt ihn am Arm und gab ihm eine Handvoll Dukaten.
Er ging damit fort, achtete aber des Goldes nicht, sondern er
brachte es dem Gärtner und sprach: "Ich schenke es deinen
Kindern, die können damit spielen." Den andern Tag rief ihm
die Königstochter abermals zu, er sollte ihr einen Strauß
Feldblumen bringen, und als er damit eintrat, grapste sie gleich
nach seinem Hütchen und wollte es ihm wegnehmen; aber er
hielt es mit beiden Händen fest. Sie gab ihm wieder eine
Handvoll Dukaten, aber er wollte sie nicht behalten und gab sie
dem Gärtner zum Spielwerk für seine Kinder. Den dritten Tag
ging's nicht anders: Sie konnte ihm sein Hütchen nicht
wegnehmen, und er wollte ihr Gold nicht.
Nicht lange danach ward das Land mit Krieg überzogen. Der
König sammelte sein Volk und wusste nicht, ob er dem Feind,
der übermächtig war und ein großes Heer hatte, Widerstand
leisten könnte. Da sagte der Gärtnerjunge: "Ich bin
herangewachsen und will mit in den Krieg ziehen; gebt mir nur
ein Pferd !" Die andern lachten und sprachen: "Wenn wir fort
sind, so suche dir eins; wir wollen dir eins im Stall
zurücklassen." Als sie ausgezogen waren, ging er in den Stall
und zog das Pferd heraus; es war an einem Fuß lahm und
hickelte hunkepuus, hunkepuus. Dennoch setzte er sich auf und
ritt fort nach dem dunkeln Wald. Als er an den Rand desselben
gekommen war, rief er dreimal "Eisenhans" so laut, dass es
durch die Bäume schallte. Gleich darauf erschien der wilde
Mann und sprach: "Was verlangst du ?" "Ich verlange ein
starkes Ross, denn ich will in den Krieg ziehen." "Das sollst du
haben und noch mehr als du verlangst." Dann ging der wilde
Mann in den Wald zurück, und es dauerte nicht lange, so kam
ein Stallknecht aus dem Wald und führte ein Ross herbei, das
schnaubte aus den Nüstern und war kaum zu bändigen. Und
hinterher folgte eine Schar Kriegsvolk, ganz in Eisen gerüstet,
und ihre Schwerter blitzten in der Sonne. Der Jüngling übergab
dem Stallknecht sein dreibeiniges Pferd, bestieg das andere und
ritt vor der Schar her. Als er sich dem Schlachtfeld näherte, war
schon ein großer Teil von des Königs Leuten gefallen, und es
fehlte nicht viel, so mussten die übrigen weichen. Da jagte der
Jüngling mit seiner eisernen Schar heran, fuhr wie ein Wetter
über die Feinde und schlug alles nieder, was sich ihm
widersetzte. Sie wollten fliehen, aber der Jüngling saß ihnen auf
dem Nacken und ließ nicht ab, bis kein Mann mehr übrig war.
Statt aber zu dem König zurückzukehren, führte er seine Schar
auf Umwegen wieder zu dem Wald und rief den Eisenhans
heraus. "Was verlangst du ?" fragte der wilde Mann. "Nimm
dein Ross und deine Schar zurück und gib mir mein dreibeiniges
Pferd wieder !" Es geschah alles, was er verlangte, und er ritt
auf seinem dreibeinigen Pferd heim. Als der König wieder in
sein Schloss kam, ging ihm seine Tochter entgegen und
wünschte ihm Glück zu seinem Siege. "Ich bin es nicht, der den
Sieg davongetragen hat", sprach er, "sondern ein fremder Ritter,
der mir mit seiner Schar zu Hilfe kam." Die Tochter wollte
wissen, wer der fremde Ritter wäre, aber der König wusste es
nicht und sagte: "Er hat die Feinde verfolgt, und ich habe ihn
nicht wiedergesehen." Sie erkundigte sich bei dem Gärtner nach
dem Jungen; der lachte aber und sprach: "Eben ist er auf seinem
dreibeinigen Pferde heimgekommen, und die andern haben
gespottet und gerufen: ,Da kommt unser Hunkepuus wieder an.'
Sie fragten auch: ,Hinter welcher Hecke hast du derweil gelegen
und geschlafen ?' Er sprach aber: ,Ich habe das Beste getan, und
ohne mich wäre es schlecht gegangen.' Da ward er noch mehr
ausgelacht. "
Der König sprach zu seiner Tochter: "Ich will ein großes Fest
ansagen lassen, das drei Tage währen soll, und du sollst einen
goldenen Apfel werfen: Vielleicht kommt der Unbekannte
herbei." Als das Fest verkündigt war, ging der Jüngling hinaus
zu dem Wald und rief den Eisenhans. "Was verlangst du ?"
fragte er. "Dass ich den goldenen Apfel der Königstochter
fange." "Es ist so gut, als hättest du ihn schon", sagte Eisenhans,
"du sollst auch eine rote Rüstung dazu haben und auf einem
stolzen Fuchs reiten." Als der Tag kam, sprengte der Jüngling
heran, stellte sich unter die Ritter und ward von niemand
erkannt. Die Königstochter trat hervor und warf den Rittern
einen goldenen Apfel zu, aber keiner fing ihn als er allein; aber
sobald er ihn hatte, jagte er davon. Am zweiten Tag hatte ihn
Eisenhans als weißen Ritter ausgerüstet und ihm einen
Schimmel gegeben. Abermals fing er allein den Apfel, verweilte
aber keinen Augenblick, sondern jagte damit fort. Der König
war bös und sprach: "Das ist nicht erlaubt, er muss vor mir
erscheinen und seinen Namen nennen." Er gab den Befehl,
wenn der Ritter, der den Apfel gefangen habe, sich wieder
davonmachte, so sollte man ihm nachsetzen, und wenn er nicht
gutwillig zurückkehrte, auf ihn hauen und stechen. Am dritten
Tag erhielt er vom Eisenhans eine schwarze Rüstung und einen
Rappen und fing auch wieder den Apfel. Als er aber damit
fortjagte, verfolgten ihn die Leute des Königs, und einer kam
ihm so nahe, daß er mit der Spitze des Schwertes ihm das Bein
verwundete. Er entkam ihnen jedoch; aber sein Pferd sprang so
gewaltig, dass der Helm ihm vom Kopf fiel, und sie konnten
sehen, dass er goldene Haare hatte. Sie ritten zurück und
meldeten dem König alles.
Am andern Tag fragte die Königstochter den Gärtner nach
seinem Jungen "Er arbeitet im Garten; der wunderliche Kauz ist
auch bei dem Fest gewesen und erst gestern abend
wiedergekommen; er hat auch meinen Kindern drei goldene
Äpfel gezeigt, die er gewonnen hat." Der König ließ ihn vor sich
fordern, und er erschien und hatte wieder sein Hütchen auf dem
Kopf. Aber die Königstochter ging auf ihn zu und nahm es ihm
ab, und da fielen seine goldenen Haare über die Schultern, und
es war so schön, daß alle erstaunten. "Bist du der Ritter
gewesen, der jeden Tag zu dem Fest gekommen ist, immer in
einer andern Farbe, und der die drei goldenen Äpfel gefangen
hat ?" fragte der König. "Ja", antwortete er, "und da sind die
Äpfel", holte sie aus seiner Tasche und reichte sie dem König.
"Wenn Ihr noch mehr Beweise verlangt, so könnt Ihr die Wunde
sehen, die mir Eure Leute geschlagen haben, als sie mich
verfolgten. Aber ich bin auch der Ritter, der Euch zum Sieg über
die Feinde verholfen hat." "Wenn du solche Taten verrichten
kannst, so bist du kein Gärtnerjunge. Sage mir, wer ist dein
Vater?" "Mein Vater ist ein mächtiger König, und Goldes habe
ich die Fülle und soviel ich nur verlange." "Ich sehe wohl",
sprach der König, "ich bin dir Dank schuldig, kann ich dir etwas
zu Gefallen tun?" "Ja", antwortete er, "das könnt Ihr wohl, gebt
mir Eure Tochter zur Frau." Da lachte die Jungfrau und sprach:
"Der macht keine Umstände ! Aber ich habe schon an seinen
goldenen Haaren gesehen, daß er kein Gärtnerjunge ist", ging
dann hin und küsste ihn. Zu der Vermählung kam sein Vater und
seine Mutter und waren in großer Freude, denn sie hatten schon
alle Hoffnung aufgegeben, ihren lieben Sohn wiederzusehen.
Und als sie an der Hochzeitstafel saßen, da schwieg auf einmal
die Musik, die Türen gingen auf, und ein stolzer König trat
herein mit großem Gefolge. Er ging auf den Jüngling zu,
umarmte ihn und sprach: "Ich bin der Eisenhans und war in
einen wilden Mann verwünscht, aber du hast mich erlöst. Alle
Schätze, die ich besitze, die sollen dein Eigentum sein."

 

 

Der im Wald lebende Mann – ein Archetyp der europäischen Erzählkultur
Statue des wilden Mannes aus dem Wald bei den Wasserspielen in Hellbrunn in Salzburg

 

 

 

"De wilde Mann" ist ein weiteres Märchen der Gebrüder Grimm über einen wilden Mann, der in den Wäldern lebt und von Menschen gejagt wird.1)

 

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1) Gebrüder Grimm: "De wilde Mann". In: Gebrüder Grimm: "Kinder-und Hausmärchen",

ISBN: 3522147006
Thienemanns
Erscheinungsdatum: 1989

In Hellbrunn bei den Wasserspielen in Salzburg gibt es die Statue eines wilden Mannes, offensichtlich eines Mannes aus dem Wald, mit dem sich die reichen Leute dann vergnügten (17. Jahrhundert).

Menschen scheinen noch lange nach der Bronzezeit im Wald gesiedelt zu haben. Spürbar ist diese Lebensweise in den Sagen über die wilden Männer in der europäischen Erzählkultur
Der wilde Mann in der europäischen Erzählkultur

Über einen wilden Mann von Klosters-Serneus in der Schweiz

 

schreibt Franz Braumann  in seinem Buch "Alpenländische Sagenreise"1) .2) Klosters hat den wilden Mann 3) seit dem 16 im Wappen. Franz Braumann beschreibt den wilden Mann von Klosters als ausgesprochen nett, hilfsbereit und bescheiden. Er wird von den zivilisierten Menschen ausgetrickst und kann sich nicht wehren. Er ist sprachlos.

 

Die Gemeinde Wildon in der Steiermark  hat den wilden Mann im Wappen.4) Auch der wilde Mann von Wildon wird den Sesshaften gemartert, er soll aber vorher diese gequält haben.

 

Die Stadt Wildemann in Niedersachsen5) hat den wilden Mann im Wappen.

Der Sage nach sichteten sie beim Vordringen in das unwirtliche Innerstetal einen Wilden Mann, der mit einer Wilden Frau zusammenlebte.Versuche, ihn zu fangen, schlugen fehl. Auch reagierte er nicht auf Zurufe. Schließlich beschoss man ihn mit Pfeilen, was ihn so verletzte, dass er gefangen werden konnte. In Gefangenschaft sprach er nicht und ließ sich auch nicht zum Arbeiten bewegen. Als man beschloss, ihn dem Herzog vorzuführen, starb er an seinen Schussverletzungen. Am Ort, wo der Wilde Mann gefangen worden war, fand man große Silbervorkommen und dort wurde Wildemann gegründet.

 

Wie oben ersichtlich, erweist sich Eisenhans der Gebrüder Grimm als großer König.

 

Der wilde Mann wird auch im Gilgamesch   Epos6) thematisiert. Rübezahl  7) kann als wilder, im Wald lebender Mensch gedeutet werden. Wie Eisenhans der Gebrüder Grimm ist er ein Hinweis darauf, dass die Waldmenschen nicht primitiv waren.

 

Shakespeare bezog sich mit der Figur des halb menschlichen, halb tierischen Insulaners Caliban im Schauspiel Der Sturm auf den Typus des Wilden Mannes.

 

Johann Wolfgang von Goethe gibt in seinem Werk Faust, der Tragödie zweiter Teil, erschienen posthum 1832, in den Versen 1240 bis 1247 unter der Überschrift RIESEN eine Beschreibung der Wilden Männer ab:

RIESEN
Die wilden Männer sind s’ genannt,
Am Harzgebirge wohlbekannt;
Natürlich nackt in aller Kraft,
Sie kommen sämtlich riesenhaft.
Den Fichtenstamm in rechter Hand
Und um den Leib ein wulstig Band,
Den derbsten Schurz von Zweig und Blatt,
Leibwacht, wie der Papst nicht hat.

 

 

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1) Braumann, Franz: "Alpenländische Sagenreise" Oberösterreichischer Landesverlag 1974.

2) http://de.wikipedia.org/wiki/Klosters-Serneus  20.9.2013

3) http://de.wikipedia.org/wiki/Wilder_Mann    20.9.2013

4) http://de.wikipedia.org/wiki/Wildon     29.9.13

5) http://de.wikipedia.org/wiki/Wildemann   29.9.13

6) http://de.wikipedia.org/wiki/Gilgamesch

7) http://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCbezahl

Bis ins 17. Jahrhundert gab es also Einzelgänger, die wie Höhlenmenschen in Höhlen im Wald lebten. Auch Sonnleitner schreibt die Geschichte seiner Vorfahren in dem Roman "Die Höhlenkinder"1). "Eisenhans", "Die Höhlenkinder", der wilde Mann in Hellbrunn, Schillers "Die Räuber"2), Robin Hood3) ... im Wald sich durchschlagende Menschen sind ein Märchenmotiv der europäischen Erzählkultur.

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1)http://de.wikipedia.org/wiki/Die_H%C3%B6hlenkinder 

2) http://de.wikipedia.org/wiki/Die_R%C3%A4uber

3) http://de.wikipedia.org/wiki/Robin_Hood

Alle: 23.3. 13

Selbst jetzt, im 21. Jahrhundert, ist die Vorstellung vom wilden Mann noch in uns, wie ein modernes Märchen der Autorin Carola Zain beweist. Carola Zain, die Autorin des Gedichte-Bandes http://www.epubli.de/shop/buch/a/29227? ... 0-52254257

hat beiliegendes Märchen verfasst:

 

Der Bergriese

Weder Vater Peter noch Mutter Viktoria hatten bemerkt, dass der zehnjährige Sohn Franz das Haus verließ, um seinen Opa zu suchen. Seit drei Tagen war der Großvater des kleinen Jungen verschwunden. Franz glaubte zu ahnen, wo er steckte.
Als Franz den Feldweg einbog, hielt er kurz inne. Der wütende Sturm vom letzten Abend hatte sich gelegt und die aufglühende Sonne tauchte unzählige Blumen und Gräser in purpurnes Licht. Franz schnappte sich eine Mohnblüte und stopfte sie sich in seinen Hemdkragen: „Genau das würde Opa jetzt tun.“, sagte er stolz.
Als Franz die Hängebrücke überquerte, brodelte mit lautem Getöse der aufgewühlte Fluss unter ihm. Eine schlammig-braune Masse riss unzählige Steine und Äste mit sich in die Tiefe, das die Wassermassen ans Ufer klatschten.
Zum Glück würde Franz bald den höher gelegenen Trampelpfad erreichen, wo die alte knorrige Eiche rankte. Wie oft hatten sein Opa und er dort im hohen Gras gesessen und scheues Rotwild, Füchse und Hasen erspäht. Einmal hatte sein Opa unerwartet unter dem Schutz des Nachthimmels eine Geschichte erzählt, die Franz nicht mehr losließ.
„Der Junge, er hieß Nammifranz, war so ähnlich wie du!“, begann sein Großvater mit warmer Stimme zu sprechen: „Er streifte durch das Gebirge des Waldriesen. Dabei übersah er eine unsichtbare Grenze. Und eine Armee hitzköpfiger Zwerge bombardierte Nammifranz mit Eicheln. Nammifranz aber ließ sich das nicht gefallen und zielte mit seiner Steinschleuder zurück. Dabei traf er den Anführer der Kobolde am Kopfe, sodass dieser drei Tage lang im Koma lag.
„Und was passierte dann?“
Sein Großvater hob ehrfürchtig seine buschigen Augenbrauen: „Was glaubst du denn?“
„Sie haben ihn verzaubert?“
„Nein! Sie wurden beste Freunde, weil Nammifranz es wieder gut machte und ihnen bei der Arbeit half. Sie brauten aus dem Harz der Baumstämme köstliche Gelleebonbons.“
„Und dann?“
„Kam der Tag der Vergeltung. Der Geist des Bergriesen sah es nicht gerne, dass ein menschliches Wesen mit Kobolden verkehrte. Also schickte er einen Gesandten, um den Eindringling zu bestrafen.“
Franz erinnerte sich noch haargenau, wie ihm sein Opa einen Karamelbonbon zusteckte. Und er erinnerte sich auch wie das Papier beim Auswickeln raschelte. Die Stimme seines Großvaters wurde fester: „Abends plötzlich hörte der Älteste ein lautes Grollen. Noch ehe man begriff, was passiert war, kreischte ein riesiger Raubvogel mit seinem gebogenen Schnabel über das aufgeregte Volk hinweg und packte Nammifranz am Hosenbund. Immer höher und höher zerrte dieser den sich wehrenden und zappelnden Knirps in die Höhe. Bis in den Nachthimmel hinein. Der Adler ließ ihn an der hell scheinenden Mondsichel zurück, dass ihn alle sehen konnten. Vermutlich würde Nammifranz noch immer an der Sichel baumeln, hätte ihn nicht eine Sternen-schnuppe gerettet und ihn wohlbehalten zurück auf die Erde getragen.“
Franz erinnerte sich, wie sein Opa bei dem Wort „Sternenschnuppe“ mit seinem Stock dreimal auf einen Felsen klopfte. Und als Franz genauer hinsah, entdeckte er einen Sternenabdruck mit fünf Zacken. „Siehst du. Genau hier ist er gelandet.“
Den Stern hatte er schon lange hinter sich gelassen. Den halben Tag war Franz bereits auf den Beinen. Aber wie weit war es noch bis zum Gipfel des Bergriesen? Missmutig setzte Franz einen Fuß vor den anderen. Halsstarrige Äste und Zweige streiften seinen Körper. Er kämpfte sich durch Unterholz, stapfte durch dicht gewachsenes Farn, schlug mit Stöcken Spinnenweben entzwei, strich mit seinen Fingern über saftiges Moos und genehmigte sich hie und da eine fruchtige Waldbeere. Manchmal war ihm, als würde ihn etwas verfolgen. Aber jedes Mal, wenn er sich umblickte, sah er nichts als wackelndes Geäst.
Schier in dem Moment, als Franz schon glaubte, der falschen Fährte gefolgt zu sein, sah er ein Licht durch dichtes Blattwerk schimmern, das sich vom Berg in den offenen Himmel streckte. Franz spürte, wie sich seine Lungen vor Aufregung blähten. Immer schneller hasteten die wegrutschenden Schuhe des Jungen den Hang hinauf. Bis hoch zum obersten Gipfel, aus dem der Bergriese ragte. Nun stand er direkt vor ihm. Franz schauderte bei dem Anblick. Der Felsen sah aus wie ein Adler!
„Opa? Bist du hier?“ Franz war außer Atmen. Er starrte zu den massiven Baumstämmen, die sich wie gewaltige Gitterstäbe um den Bergriesen platzierten. Offenbar dienten sie dazu, Eindringlinge wie Franz zu vertreiben oder einzuschüchtern. Denn keiner dieser Bäume ließ auch nur einen winzigen Lichtschimmer auf den mit Kiefernadeln übersäten Boden durchsickern. Kein Vogel, keine Eidechse, kein anderes Getier schien hier zu hausen. Der Wind war eisig still. Plötzlich aber hörte Franz ein raues Pfeifen durch die Luft sägen. Etwas Hartes streifte seine Schultern, sodass es ihn zu Boden warf. Scharfkantige Steine bohrten sich in seinen Rücken. Mit voller Wucht trat er gegen das krallende, hackende Tier: „Weg! Geh weg!“ Die gewaltige braune Federmasse stürzte sich auf ihn, als wäre er eine leicht zu habende Beute. Aber etwas schien das Tier zu verwirren, denn so schnell wie es gekommen war, so schnell ergriff es plötzlich die Flucht. Franz war wie gelähmt, als er den riesigen Raubvogel in den schwarzen Himmel verschwinden sah. War das der böse Geist des Waldriesen? Sein Herz raste. Das schrille Kreischen verstummte erst nach endlosen Minuten endgültig in der Tiefe des Horizonts und Franz brauchte eine Weile, um zu wissen, wo er war. Doch war ihm vor Schreck immer noch nicht klar, wer oder was das Tier verscheucht hatte. Ein kalter Trop-fen erschütterte seine Haut, dass er Gänsehaut bekam. Der Himmel wurde trüb.
Franz schützte sich mit seiner dünnen Windjacke, die er über den Kopf zog. Er glaubte, unter diesem trom-melnden Regendach den Verstand zu verlieren. Eine schmerzliche Kälte presste sich an seinen Körper, dass seine Hände steif wurden. Seine Zähne klapperten.
Franz dachte an die Vorkommnisse der letzten Tage zurück. Er dachte an seinen verschollenen Opa, die ausgeweinten Augen seiner Mutter, die tröstenden Worte des Vaters und vor allem an seine kleine Schwester mit ihren blonden Löckchen und die mit Schokolade beschmierte Zuckerschnute, die immerzu unpassende Fragen stellte. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Aber Franz wusste nicht, was.

„Wieso hast du ihm nicht die Wahrheit erzählt?“ Peter, der Vater des Buben, warf seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du weißt doch, wie sehr Franz an seinem Opa hing!“ Veronika, seine Ehefrau, wollte gerade antworten, als der vor ihr sitzende Pilot sie unterbrach: „Ich glaube, ich sehe etwas! Wir müssen tiefer hinunter!“ Der Lotse zog einen Hebel, sodass der Helikopter ruckartig an Höhe verlor, als würde er jeden Moment abstürzen. Peter griff die Hand seiner Frau, drückte sie fest zu und schloss die Augen, als würde er beten.
„Wir sind direkt über ihm!“ Als der Pilot zum Landen ansetzte, rammte ihn beinahe ein Adler, sodass der Pilot in letzter Sekunde ausweichen musste. Für einen Moment taumelte der Quirl. Dann aber schaukelte er sich wieder ins Gleichgewicht und setzte mit seinen schweren Kufen auf einer schmalen Anhöhe auf, um das Pärchen aussteigen zu lassen.
„Er sieht so erwachsen aus!“ Peter zögerte und verlangsamte seine Schritte, als er sich seinem Sohn näherte.
„Er steht unter Schock!“ Veronikas Herz bebte vor Sorge.
„Nein! Das ist es nicht! Sieh ihn dir an!“ Langsam richtete sich Franz, seine rote Mohnblüte am Hemdkragen tastend, auf. Im Auge des Bergriesen wirkte Peters Sohn zerbrechlich. Und doch hatten sein gläserner Blick und seine ernsten Gesichtszüge etwas Gefasstes, ja beinahe Erwachsenes an sich. Die rote Blüte schwebte zu Boden.
Aug in Aug standen sie schließlich gegenüber: Vater und Sohn. Aufrecht, stolz, nicht nachgebend, aber auch nicht tapfer. Wer Angst vor dem Tod hat, fürchtet in Wahrheit das Leben, ging es Peter kurz durch den Kopf: „Es tut mir leid, dass wir es dir nicht gesagt…“
Aber Franz ignorierte die versöhnenden Arme seines Va-ters, ließ ihn wütend stehen und steuerte schnurstracks auf den Hubschrauber zu, um einzusteigen.
Als der Helikopter noch einmal hoch über dem Bergriesen kreiste, klarte der Himmel auf. Franz dachte an seinen verstorbenen Großvater. Und als er Hände und Nase gegen die Scheibe presste, strahlte die untergehende Sonne durch die Bäume hindurch wie ein fünfzackiger Stern. Zwei Wolken vereinten sich im Himmel. Sie sahen aus wie die zerbrechlichen Flügel eines jungen Adlers. Und als Franz sich eine Träne von der Wange wischte, war ihm, als würden sie zum Abschied winken.

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Die Autorin der Erzählung „Der Bergriese“ Carola Zain an Brigitte Prem SdS Hamburg 2014: Ich wollte kein Märchen schreiben. Die Prämisse hinter meiner Erzählung sind die fünf Trauerphasen nach Kübler-Ross http://www.pflegewiki.de/wiki/Elisabeth_K%C3%BCbler-Ross

 

1. Nichtwahrhabenwollen und Isolierung (Denial)
2. Zorn (Anger)
3. Verhandeln (Bargaining)
4. Depression
5. Akzeptanz (Acceptance)

 

Diese Jimdo-Seite soll zeigen, dass die mythische Denkweise: Bergriesen, Zwerge, mythische Raubvögel – tief in uns Menschen verankert sind und viele von uns noch in mythischer Sprache denken.

Dazu ist die Erzählung "Der Bergriese" wunderbar geeignet, gerade, weil die Autorin kein Märchen schreiben wollte.

 

Das märchenhafte Flair kommt auch durch die wunderschönen Naturschilderungen zustande.  Er wird allerdings durch verschiedene Bemerkungen durchbrochen: köstliche Gelleebonbons Karamelbonbon Papier beim Auswickeln mit Schokolade beschmierte Zuckerschnute, unpassende Fragen. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Helikopter, fruchtige Waldbeere, wackelndes Geäst.

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Carola Zain, Autorin von  „Der Bergriese“, an Brigitte Prem SdS Hamburg 2014