Wie werden Tiere von Menschen wahr genommen?

Die Schwalbe von Brigitte Prem

Die Erzählung erschien in dem Band "Blau" unter dem Titel "Blau, grünblau, graublau"
http://www.literaturpodium.de/
Marko Ferst
BoD  Norderstedt

 

Blau, grünblau, graublau

von Brigitte Prem

 

Eine Tiergeschichte, in der ein Tier ein Tier ist.

 

Blau, dunkelblau, schwarzblau, hellblau, grünblau, türkisblau, graublau, stahlblau, azurblau, blassblau, königsblau, himmelsblau, tiefblau, violettblau, eisblau, grünlichblau.

 

Alle diese Blauschattierungen hatte er erfahren und hinter jeder verbarg sich eine Geschichte. Und jede dieser Geschichten hatte mit dem Monat April zu tun.

 

Die Blautöne verschwammen unter seinen Flügeln, die er erregt auf und ab bewegte. Er war auf dem Weg aus dem stahlblauen Süden zurück, voll Freude auf die nördliche, blassblaue Heimat, und dann hatte das Schicksal ihn getroffen: Seine Lebenspartnerin, mit der er schon drei Mal Junge gezeugt hatte, war hinter dem schwarzblauen Schwarm immer mehr zurück geblieben. Als er merkte, dass ihr Flügelschlag immer lahmer wurde, blieb er bei ihr. Rast war nicht möglich, denn sie waren über dem azurblauen Meer. Plötzlich flatterte sie nur noch und fiel und fiel und fiel und versank in den türkisblauen Fluten.

 

Er flog alleine weiter. Er hatte gehofft, mit ihr wieder in das nette Nest, das sie vor drei Jahren unter einem alten, graublauen Scheunendach gebaut hatten, einziehen zu können. Jedes Jahr mussten sie ein paar Spatzen, die sich über dem eisblauen Winter eingenistet hatten, hinauswerfen. Das machte ihnen nichts aus. Die Sperlinge brauchten im tiefblauen Winter Wärme, die sie ihnen gerne überlassen wollten, auch, wenn sie das Nest dann ausbessern mussten.

 

Im grünblauen Frühjahr wollten sie ihre eigene Brut züchten. Das Nest war nicht mehr da. Ja, nicht einmal die Scheune; diese war abgerissen worden. Nun war er heimatlos.

 

Er war nicht verbittert. Die Menschen mussten, gut oder böse, ihre eigene Heimat bauen. Er wusste nicht genau, wie die Menschen wohnten. Im Norden war es anders als im Süden. Er war nur traurig, weil etwas an seiner Seite immer abging.

 

Er setzte sich auf das dunkelblaue Stahlseil, das Licht und Wärme in die Wohnungen der Menschen brachte. Es war bequemer. Er musste immer irgendwo oben sitzen, damit er sich fallen lassen konnte, wenn er wieder wegfliegen wollte. Ein Stahlseil war bequem, bequemer als Zweige. Er krallte seine Füßchen darüber. Menschen durften es nicht angreifen, hatte er gehört. Ihnen brachte die Berührung den Tod. Vom Boden kam er kaum mehr hoch; die Beinchen von Schwalben sind nicht dazu gemacht, vom Boden hochzuhüpfen.

 

Er schaute auf die Seite und sah Unmengen seinesgleichen. Einen, der gleich neben ihm saß, erkannte er als aus seiner vorjährigen Brut stammend. Er erinnerte sich gut an ihn, denn er war lange im Nest geblieben und hatte geholfen, die Jungen der zweiten Brut zu füttern.

 

"wid wid", machte er zögernd.

 

"tschrrip", kam es zurück.

 

Und plötzlich erklang ein lautes, jubilierendes "wid wid", "tschrrip", "wid wid", "tschrrip", "wid wid", "tschrrip".

 

Er war angenommen, er war aufgenommen. Und er schaute genauer hin, und es war die Schar, die er über dem Meer wegen seiner sterbenden Partnerin hatte verlassen müssen. Schwalben leben alleine mit ihrer Familie, aber sie fliegen in großen Schwärmen, und manchmal treffen sie sich.

 

Ein junges Mädchen ließ sich vom Stahlseil fallen und posierte vor ihm.

 

Sie gefiel ihm.

 

„brrit“, rief eine der Schwalben; es war der Warnruf. Der ganze dunkelblaue Schwarm flog auf und davon. Er sah hinunter; das Schwalbenmädchen setzte sich neben ihn. Unter einem Busch war ein Fuchs, aber er war weit unten, keine Gefahr.

 

Das Schwalbenmädchen plusterte ihr violettblaues Seidenkleid und zog ihre steifen Schwungfedern durch den Schnabel. Er spürte schwingend und schwelend, dass es Zeit war, eine kleine Häuslichkeit zu gründen. Sie zwitscherten sich zu.

 

Er ließ sich fallen, dann schoss er mit schnellem Flügelschlag pfeilgerade in die Höhe; Insekten werden von unten her gejagt. Er erreichte seine vorige Flughöhe wieder und flog zu ihr zurück; er steckte ihr eine riesige, saftige, königsblaue Gelse in den Schnabel, dann lockte er sie hinunter. Der Wind hatte das schmackhafte, grünlichblaue Luftplankton in die Tiefe geweht, und Insekten flogen wenig über dem Boden. Es würde bald regnen.

 

„Wenn die Schwalben tief fliegen, gibt es Regenwetter“, sagen die Menschen. Es ist eine gute Zeit für die Schwalben, sich Nahrung zu holen.

 

Als sie satt waren, flog das Mädchen davon und er folgte ihr. Sie flog an den menschlichen Scheunen und Häusern vorbei, sie wollte Einsamkeit. Durch den hellblauen Wald – Lärchen. Hinauf ins Himmelsblau. Über das Fichtengrün zu einem riesigen Felsen neben einem kleinen Bach. Mit natürlichen Löchern. Sie schlüpfte in eines. Er verstand: Er stürzte hinunter an den Bachrand und nahm ein lehmiges Stück auf, das er mit seinem Speichel vermischte und in die Höhle brachte. Der Nestbau hatte begonnen.

 

Von sieben Schwalben einer Brut erreichen drei das Erwachsenenalter.

 

Autoren von Tiergeschichten, in denen Tiere Tiere sind: Schiller, Ebner-Eschenbach, Hermann Löns, Theodor Weissenborn, Goethe

Manfred Breitinger: Das Rehkitz

Das Rehkitz
Wir trugen Äste, Zweige und dünne Stämme
zum Lager am Waldesrand zum Stapeln.
Da war es!
Erst hörten wir ein schnelles Fliepsen
dann irrten unsere Augen umher.
Im Gras saß ein winziges,
nur zwei Fäuste großes Rehkitz.
Ein Bambi mit weißen Flecken.
Hoffte es, nicht gesehen zu werden?
Es drückte sich in die hohen Grasbüschel hinein,
und ehe wir zwei Schritte machten, war es weg.
Weg! Bambi.
Da spürten wir - und das Rehkitz auch - in der Leere ein atemraubendes
Gefühlschaos, das sich in diesem kleinen Wesen verbirgt.

Manfred Breitinger: Das Rehkitz SdS Hamburg, Autor des Romans

"Sich erinnern und vergessen".

Tiergedichte von Alexander Stahlhacke

Die Bienenkönigin
Ihre Majestät kommt heute spät
weil sie gerade noch Eier legt.
Da kriecht aus königlicher Wabe
 durch die wächserne Promenade
die Königin im Honigkleid
in den Thronsaal,
nun ist es soweit: 
es erscheint die Königin
zu diesem wichtigen Termin.
Die Meise
„In der Schachtel schläft die Wachtel“ fängt Dachs an zu Reimen.
„Falsch! In der Schachtel schläft die Meise“ kommentiert Maus weise.  
Jungvogel
Dem kleinen Vöglein knurrt der Magen
drum ist sein Schnabel auch ganz offen
gleich etwas zu fressen, das kann es nur hoffen.
Regenwurm
Drei Regenwürmer schaukeln munter
aus Mausis Hand,
vielleicht fallen sie runter
und können sich befreien.
Sonst wär’s aus mit den dreien.
Feuersalamander
Schwarze Echsen
mit gelben Klecksen
werden Feuersalamander genannt
Sie sind vor allem in hügeligen Wäldern
doch manchmal auch im Tiefland bekannt.
Diese langsamen Tiere fressen geschwind
und das liegt daran, dass es Schlingtiere sind.
ganz nach dem Motto: der Schnellste gewinnt.
Junge Frösche
Während überm Teich die Sternlein blinken
jagen zwei Frösche einer Kaulquappe nach, einer flinken.
Sie muss schon schlafen gehen, denn es ist schon spät.
Doch sie ist noch klein und weiß nicht, wie das geht.
Und so quaken Froschmami und -papi 
für Kaulquappi
ein Einschlaflied.
Kaulquappi wird plötzlich müde, 
sie weiß nicht wie ihr geschieht.
Den Fröschen gelingt’s Kaulquappi in den Schlaf zu wiegen
und während sie schläft, träumt sie von leckersten Fliegen.

Alexander Stahlhacke

Der Drohn

Brigitte Prem

Die Drohne, eigentlich der Drohn, denn es handelt sich um das männliche Tier bei Wildbienen, flog die Tartanbahn entlang. Tatsächlich flog er nicht die rote Farbe der Tartanbahn entlang, wie ein unbedarfter Zuschauer meinte, sondern er verfolgte Herrn Esel.
Herr Esel war Polizist, und er wollte gut laufen können, deshalb trainierte er. Ein gut trainierter Polizist zu sein gehörte zu seinem Selbstbildnis.
Die Tartanbahn führte an einer mit Gestrüpp bewachsenen Brachwies vorbei, in der sich ein Wildbienenvolk angesiedelt hatte.
Wildbienen sind effektiver in ihrer Bestäubung als Honigbienen. Manche von ihnen fliegen auch bei kaltem und schlechten Wetter – einer Zeit, zu der die Honigbiene meist noch inaktiv ist. Wildbienen besuchen im gleichen Zeitraum wie eine Honigbiene etwa drei- bis fünfmal so viele Blüten.
Sei es nun, dass der Drohn sich selbst für eine Wächterbiene hielt, sei es, dass der unbedarfte Zuschauer die Wächterbiene für einen Drohn hielt.
Herr Esel war bei seinem Lauf an den Altstamm angekommen, in dem Wildbienen sich eingenistet hatten, und der Drohn oder die Wächterbiene löste sich von den Gefährten und verfolgte den bedrohlichen Menschen.
In jedem Bienenvolk gibt es spezielle Wächterbienen. Wenn sich jemand dem Stock nähert, fliegen sie direkt auf ihn zu und signalisieren so: Bitte Abstand halten! Sie verfolgen einen Säuger wie den Menschen aber auch, wenn sie in ihm eine Bedrohung für das Bienenvolk sehen. Außerdem achten sie darauf, dass sich keine räuberischen Wespen und Hornissen in den Bienenstock schmuggeln. Die Aufgaben im Bienenvolk sind streng verteilt. Jede weibliche Biene, die nicht Königin ist, muss im Laufe ihres 36-tägigen Lebens Brutpflerin, Wächterbiene und Arbeiterin, also Sammlerin, sein.
Herr Esel merkte nichts davon.
Der Drohn kam seinem Nacken gefährlich nahe, dann war er wieder ein paar Meter weg. Aber obwohl man sich vom Bienenstock entfernte, ging die Verfolgung weiter. Nach 200 Metern hatte der Drohn Herrn Esel fast erreicht. 200 Meter sind ein Knackpunkt für Herrn Esel. Ab 200 Meter ist die Milchsäure verarbeitet, und man braucht mehr Kraft, wenn man weiter machen will. Aber auch für die Wächterbiene ist 200 Meter eine Grenze. Ab da sieht sie das Säugetier nicht mehr als Bedrohnung für die Bienenfamilie. Sie wendete sich ab und flog zurück.
Herr Esel überlegte kurz und entschloss sich, mit seinem Training aufzuhören.