Claudia Burchhardt

 

Gjarlan, der freundliche Zwerg

Gjarlan war ein Zwerg. Er sah fast aus, wie man sich Zwerge so vorstellt. Er war von kleiner Statur, kleiner als ein normaler Mensch. Doch er war stärker als drei von ihnen zusammen. Mit seinen breiten Schultern wirkte er beinahe eckig. Seine Hände waren groß und konnten zupacken, ideal für das Schwingen einer Axt oder eines Hammers. Er hatte gelocktes rotes Haar, das ihm ständig ins Gesicht fiel. Darunter blickten lebhafte schwarze Knopfaugen neugierig in die Welt.
Gjarlan war von überaus freundlicher Natur. In seinem Gesicht prangten viele Sommersprossen – man würden ewig brauchen, sie zu zählen. Und seine roten Bäckchen ließen ihn noch freundlicher aussehen.
Doch was ihn am deutlichsten von den anderen Zwergen unterschied, war der Bart. Er hatte nämlich keinen. Nun könnte man sagen, dass Gjarlan noch recht jung für einen Zwerg war. Er hatte gerade erst seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Die ersten Stoppeln zeigten sich jedoch üblicherweise schon im Alter von etwa fünfzig, bei den Frauen genauso wie bei den Männern. Gjarlans Gesicht jedoch war noch immer glatt wie bei einem Jungzwerg.

So blieb es nicht aus, dass Gjarlan von den anderen Zwergen mit den kunstvoll geflochtenen Bärten nicht wirklich als einer von ihnen betrachtet wurde.
„Elfe!“, hatte Yadri ihn gestern verächtlich genannt, dabei hatte auch er nur ein paar Härchen im Gesicht.
Für das kleine, laute, mürrische Volk war das eine der größten Beleidigungen, die es kannte. Elfen waren völlig anders als Zwerge. Sie waren groß und schlank, leise und nachdenklich in ihrer Art, aßen kein Fleisch und waren freundlich zu allen. Bärte hatten sie auch nicht, soweit Gjarlan wusste.
So kam es, dass Gjarlan an diesem Morgen trübselig durch die Minen strich, in denen er mit den anderen Zwergen lebte und arbeitete. Sie waren gute Handwerker und die hergestellten Waffen und Schmuckstücke erfreuten sich großer Nachfrage bei allen Völkern.
Gjarlan sah überrascht auf, als er plötzlich Fadrins Höhle erreichte. Fadrin war ein alter Zwergenkrieger und wurde insgeheim von allen bewundert. Er konnte viele Geschichten von seinen Reisen erzählen. Und wenn er das mit seiner tiefen Stimme tat, hatte man das Gefühl, das Brüllen von Drachen und Trollen zu hören und an Fadrins Seite gegen sie zu kämpfen. Gjarlan hatte schon als Jungzwerg viel Zeit bei Fadrin verbracht. Er mochte den Alten und seine Geschichten, auch wenn der ihn immer unfreundlich unter den weißen, buschigen Augenbrauen hervor ansah. So unfreundlich und mürrisch wie Fadrin immer tat, war er nämlich gar nicht. Er hatte auf seinen vielen Reisen sogar Freundschaften mit anderen Völkern geschlossen, selbst den Elfen. Obwohl die anderen Zwerge den alten Krieger für seine Heldentaten bewunderten, hatte man ihn in die Höhle verbannt, die am weitesten von ihnen entfernt am Mineneingang lag. Fadrin bekam nämlich oft Besuch von seinen fremdartigen Freunden. Die anderen Zwerge jedoch blieben gern unter ihresgleichen und gingen den exotischen Gästen lieber aus dem Weg. Gjarlan aber störten sie nicht. Er nahm den Weg zu Fadrin gern in Kauf und er war stets gespannt, wen er in der Höhle antreffen würde.

Heute jedoch war er ganz ziellos und ohne Absicht hierhergelaufen. Und nun das. Vor der Höhle saß Vala. Sie kannte Fadrin aus alten Zeiten und besuchte ihn regelmäßig. Selbst Gjarlan versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, denn Vala war eine Elfe. Wäre Vala eine ganz gewöhnliche Elfe, gäbe es nichts zu befürchten. Schließlich waren die meisten Elfen harmlose Naturliebhaber, meistens arrogant und selbstverliebt, aber ungefährlich. Das erzählte man sich zumindest in den Minen.
Doch Vala war keine gewöhnliche Elfe, sie war eine Magierin. Aus Fadrins Erzählungen wusste Gjarlan, wie mächtig sie war. Außerdem war sie nie allein unterwegs. An ihrer Seite hatte sie stets Nor, einen riesigen, schwarzen Wolf. Er war ihr treuer Begleiter und so groß, dass sie auf ihm reiten konnte. Aber auch so groß, dass er einen normalen Zwerg mit zwei Happen verspeisen könnte. Angeblich hatte er das noch nie getan, trotzdem mied Gjarlan Fadrins Höhle für gewöhnlich, wenn die beiden hier waren. Sicher war sicher.
„Verlaufen?“, fragte Vala ihn mit einem milden Lächeln. Ihre grasgrünen Augen musterten Gjarlan interessiert, während sie sanft ihren Wolf kraulte.
„Ähm, nein“, murmelte Gjarlan. Elfen konnten ja so einschüchternd sein. Der Zwerg scharrte verlegen mit den Füßen und versuchte, ihrem Blick auszuweichen.
„Wolltest du den alten Griesgram besuchen?“, half die Elfe höflich nach.
„Eigentlich nicht“, gab Gjarlan zu. „Ich war nur in Gedanken und dann stand ich plötzlich hier.“
„Wichtige Gedanken also?“
„Hm.“ Gjarlan sah Vala prüfend an. „Yadri hat mich Elfe geschimpft“, sprudelte es da plötzlich aus ihm heraus. Gjarlan sah es in ihren Augen blitzen. Hoffentlich sah sie es nicht als Beleidigung an, dass „Elfe“ offensichtlich ein Schimpfwort unter Zwergen war. Elfen waren ja so schnell beleidigt, das sagte jeder.
„Was hast du denn angestellt, dass du derart beschimpft wirst?“ Sie wirkte ganz und gar nicht beleidigt, sondern eher belustigt und wies mit einer Hand auf den Platz neben sich. Gjarlan warf einen prüfenden Blick zu Nor, doch der Wolf sah ihn nur aus trägen Augen an. Na gut, der würde wohl nicht plötzlich aufspringen und ihn fressen. Trotzdem setzte sich Gjarlan lieber an Ort und Stelle nieder, in sicherem Abstand zu Nor. Er stellte erst einmal klar, dass er gar nichts angestellt hatte.
„Aber weißt du, Zwerge in meinem Alter sollten doch eigentlich schon längst einen Bart haben.“
„Und was ist so schlimm daran, dass du keinen hast?“
„Na ja, ohne Bart denken alle, ich wäre noch ein Jungzwerg und kein Mann“, druckste Gjarlan herum. Die Elfe lachte leise. „Das ist nicht alles“, beeilte er sich zu erklären. „Ein Zwerg darf beim ersten Mal doch nicht allein auf Wanderschaft gehen. Und ohne Bart nimmt mich keiner mit.“
„Warum denn nicht?“ Ach, dass Elfen immer so unschuldig fragen mussten. Sie waren doch manchmal völlig ahnungslos.
„Sie sagen, ich mache unseren Ruf kaputt, weißt du. So mit nacktem Gesicht.“ Vala sagte eine Weile nichts und beobachtete ihn einfach. Gjarlan spürte ihren Blick wie viele kleine Ameisen auf dem Körper.
„Möchtest du denn gern auf Wanderschaft?“, fragte sie dann.
„Oh ja, unbedingt! Ich möchte viel sehen, genau wie Fadrin. Die anderen Völker, die fünf Lande ...“
„Bringst du denn alle Voraussetzungen mit, die für ein Abenteuer notwendig sind?“ Vala betrachtete ihn mit erhobener Augenbraue. Auch Nor hob leicht den schweren Kopf und schien ihn abschätzig zu mustern.
„Aber natürlich!“, rief er aufgebracht. „Ich bin mutig, ich kann ohne Probleme weite Strecken laufen und ich kann gut mit der Kampfaxt umgehen. Besser als die meisten anderen Zwerge hier. Da kannst du gern Fadrin fragen.“
„Hm.“ Vala schien nachzudenken als sie sich mit ihren schlanken Fingern eine dieser typischen Elfenketten um das Handgelenk schlang. Sie nickte in Richtung Höhleneingang, an dem Fadrin die ganze Zeit unbemerkt gelehnt und zugehört hatte. Er schaute missmutig drein und stopfte seine Pfeife.
„Kann ich“, rumpelte seine Stimme bestätigend. „Und ich bilde mir ein, ich hätte dir das bereits alles gestern Abend erzählt“, brummte er griesgrämig. Doch Gjarlan sah die Lachfältchen um die alten Zwergenaugen, als dessen Blick zur Elfe wanderte.
„Das hast du wohl“, erwiderte sie ruhig und wandte sich dann an Gjarlan. „Nun, falls du dich darüber wunderst, warum der Alte und ich über dich gesprochen haben ... Wir haben vor, nach Sonnental zu reisen und suchen einen Begleiter.“
„Begleiter? Ich?“, fragte er ungläubig. Fadrin nickte ungeduldig.
„Du liegst mir seit drei Sommern damit in den Ohren, dass du unbedingt hier raus willst“, brummte er und nahm einen langen Zug aus seiner Pfeife. „Ich sehe das genauso. Du verweichlichst hier sonst noch.“ Er warf Vala einen mürrischen Blick. Doch sie machte nicht die geringsten Anstalten, zu widersprechen. Offensichtlich war sie damit einverstanden, den bartlosen Zwerg auf ihr Abenteuer mitzunehmen.
Gjarlan wusste nicht viel über Sonnental, außer, dass es am anderen Ende der fünf Lande lag und dass sich dort der Orden der drei Sonnen, Valas Magierorden befand. Es würde eine lange Reise werden, ein Abenteuer wie es wenige Zwerge erlebt hatten. Aber er würde dabei sein. Er, Gjarlan, der freundliche Zwerg ohne Bart.